Auslandssemester Illustration

Teil 4 – Time to Say Goodbye

Mir war bewusst, dass es enden wird. Mir war nur nicht bewusst, wie schwer es wird.

Angepeilt war der 17. November 2023 als Ende des Semesters. Der Tag schlich sich langsam über die vergangenen Monate an, ohne dass es jemand merkte, und erschrecke uns mit einem Satz, als er dann wirklich vor uns stand. Ich weiß nicht so recht, was ich erwartet habe. Die Tage in Neuseeland haben Wochentage und die Zeit läuft hier genauso schnell, wie überall auf der Welt. Jedoch habe ich nicht gedacht, dass das Ende derartig schnell um die Ecke kommt.

Wenn ich ehrlich bin, war das Ende nicht mal richtig gut im Anschleichen. Hätte man genau hingesehen, hätte man die Füße unter den Vorhängen sehen können und man hätte den Fußboden hören können, der unter der Last des Abschiedes verdächtig knarzte. Wir waren nur alle zu sehr mit uns selbst beschäftigt.

Der erste Abschluss war das Game Design Projekt am 05. November. In den letzten zwei Wochen vor der Abgabe, habe ich noch einmal mein Bestes gegeben. Ich hatte nämlich das Gefühl, ich müsste etwas wieder gut machen. Die Monate davor habe ich nach einem steilen Start, nichts mehr für mein Computerspiel erledigt. Es lag traurig und verstaubt in einer Ecke meines Speicherplatzes. Und auch wenn ich genau wusste, dass es in dieser Ecke liegen musste, ich ging vorbei und tat so, als wäre das Licht zu schwach, um es genau erkennen zu können. Prokrastination.

Wikipedia: Prokrastination (vom lateinischen Substantiv procrastinatio („Aufschub“, „Vertagung“), das zusammengesetzt ist aus dem Präfix pro- („vor-„, vorwärts-“) und dem Substantiv crastinum,-i („morgiger Tag“; vgl. das Adverb cras = „morgen“)), auch „extremes Aufschieben“, ist eine pathologische Störung, die durch ein unnötiges Vertagen des Beginns oder durch Unterbrechen von Aufgaben gekennzeichnet ist, sodass ein Fertigstellen nicht oder nur unter Druck zustande kommt.

Dieser Druck kam von außen. In meinem Auslandssemester habe ich einige Freunde gefunden, die sehr gut Druck machen können. Und wenn diese dann anfangen zu erzählen, wie weit sie mit ihren Projekten sind, aber wie viel sie auch noch machen müssen, wird mir schwindelig. Wahrscheinlich, weil ich immer die Luft anhalte, wenn solch ein gewaltiger Tsunami an Informationen, Fremdwörtern und Leid auf mich einprasselt. Selbst mein doch recht gelassenes Gemüt wird dadurch erschüttert und Alex muss mich dann meistens auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Dort, wo Paula alle ihren Abgaben immer schafft! Also… außer Wissenschaftliches Arbeiten. Aber… das holt Paula nach.

Die letzten zwei Wochen habe ich mich also nochmal richtig ins Zeug gelegt: An einem Tag habe ich alle Hintergründe gemalt, an einem anderen dann alle Dinge, die man einsammeln kann. Selbst das Code Schreiben, vor dem ich am Anfang viel Respekt hatte, fiel mir am Ende leicht. Natürlich habe ich noch keinen neuen Code schreiben können, aber ich konnte ihn lesen und wiederverwenden, wenn ich das für sinnvoll hielt. Wie gut sich das anfühlt, die Angst bei Seite zu legen, sich selbst zu vertrauen und den Schritt zu wagen mit offenen Gedanken an etwas ranzugehen. Ohne die Stimmen, die Selbstzweifel ausrufen, und ohne das schwere Gefühl auf dem Herzen, welches einen in die dunkle Tiefe ziehen möchte. Selbst wenn es kleine Probleme waren, bei denen andere nicht hätten nachdenken müssen, waren es für mich Meilensteine, die eine kleine Fiesta der Gefühle in mir auslösten.

Nach den ersten Abgaben wurde die in der Uni verbrachte Zeit immer weniger. Kurse wurden nach und nach abgeschlossen und das Semester schien zu Ende zu gehen. Einerseits wurde der Stress dadurch noch größer, weil plötzlich alles auf einmal abgegeben werden wollte, und andererseits wollte ich noch so viel Zeit wie möglich mit den neuen Freundschaften verbringen, die ein wundervoller Ausgleich zu der langen Zeit am Laptop schufen.

Dadurch habe ich eine ganz neue Seite an mir kennen gelernt: Scheiß-drauf-Paula. Monate lang saß ich vor dem Laptop und habe versucht alles perfekt abzugeben, damit ich ein Top-Semester in Neuseeland abschließen konnte. Doch dann, ganz hinten aus meinem Kopf kroch eine kleine abgemagerte Stimme in einer geflickten Latzhose. Sein Haar war wuschelig und zu lang, auf seinem blassen Gesicht, waren Sommersprossen zu erkennen und eine breite Zahnlücke machte sein Lächeln frech und schmutzig: Mein Scheiß-Drauf. Als Scheiß-Drauf sich zu den anderen Stimmen gesellte, bekam er nur verhöhnende Seitenblicke von den Professoren. Diese waren nun seit Monaten an der Steuerung. Sie trugen normalerweise straffe Anzüge und Brillen, über die sie auf ihre Monitore starrten, jedoch haben die letzten Monate die kleinen Kerlchen ziemlich mitgehen lassen. Ihre Hemden hatten Kaffeeflecken, ihre Krawatten waren gelockert und ihre Rücken waren etwas krummer. Um die steifen Typen etwas auf Trapp zu halten, zieht Scheiß-Drauf gerne mal den Stecker der Rechner, salzt den Kaffee oder versteckt wichtige Unterlagen. In der Zeit, in der die Professoren dann in Chaos versinken, macht es sich Scheiß-Drauf gemütlich. Mit hochgelegten Beinen genießt er die Sonnenstrahlen und den Wind um die Nase, denn sonst, hat Scheiß-Drauf nichts zu tun!

Die Abgaben sind zu Ende und so ist es das Auslandssemester für viele andere Deutsche, die mir während unserer gemeinsamen Reise sehr ans Herz gewachsen sind. Quiz-Abende im Pub, Private Cocktail-Partys mit Outfits passend zum Drink, Filmabende, Waffelfrühstücke mit „Nottinghill“ oder Disk-Golf-Spielen im Queenspark; all das habe ich mit einem gelblichen Filter im Gedächtnis und ich werde es vermissen. Stück für Stück verabschiedete ich kleinere Gruppen. Einige wird man an der Uni wiedersehen, andere wohnen am anderen Ende Deutschlands. Natürlich wohnt man immer noch im selben Land und man verspricht sich, einander zu besuchen, jedoch lässt mich das Gefühl nicht los, dass ich manche davon leider nie wieder sehen werde. Die Ungewissheit ist das Schlimmste an solchen Abschieden. Nicht zu wissen, wann es das nächste Mal sein wird, dass man sich sieht, und ob es dann genau so ist, wie hier. War es die Situation, die uns zusammengeschweißt hat? Sicherlich. Gemeinsamkeiten tragen ungemein zur Sympathie bei und Sprache, Kultur und Herkunft sind eine nicht zu unterschätzende Gemeinsamkeit. Jedoch glaube ich auch fest daran, dass es mehr war, als nur das kleinere Übel.